„Ein Schritt des Gesetzgebers in Richtung Arbeitgeber, wenn ein Arbeitnehmer nicht zur Arbeit erscheint, und drei Schritte rückwärts in der Rechtsprechung, was Überstunden bei Reisezeiten von Außendienstmitarbeitern betrifft“

21 Dezember 2022
Nicola Kömpf und Mathilde Gicquel

Gleichzeitig mit der Einführung eines neuen Artikels im frz. Arbeitsgesetzbuch („Code du travail“), der die etablierte und sehr arbeitnehmerfreundliche Rechtsprechung für Arbeitnehmer, die einfach nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz erscheinen, in Frage stellt (1), hat die „Cour de cassation“ (frz. BGH) eine komplette Kehrtwende gemacht, was die Qualifikation von Reisezeiten von Außendienstmitarbeitern betrifft (2).

1) Die neue Rücktrittsvermutung

In einem neuen Gesetz über „Sofortmaßnahmen im frz. Arbeitsmarkt in Hinsicht auf Vollbeschäftigung“, das am 17. November 2022 vom frz. Senat verabschiedet wurde und vom „Conseil constitutionnel“[1] (d.h. Verfassungsrat) am 15. Dezember 2022 für verfassungskonform befunden wurde, hat der frz. Gesetzgeber die bisherige Rechtsprechung der  „Cour de cassation“, wonach der Rücktritt eines Arbeitnehmers nicht vermutet werden kann, wenn er unentschuldigt nicht mehr an seinem Arbeitsplatz erscheint[2], komplett umgekehrt.

Bislang konnte ein Arbeitgeber die unbegründeten Abwesenheiten eines Arbeitnehmers nicht als arbeitnehmerseitige Kündigung/Rücktritt werten. Er konnte den Arbeitnehmer lediglich abmahnen, die Arbeit wieder aufzunehmen und seine Abwesenheit zu begründen. Erst nach Ermangelung einer befriedigenden Antwort, konnte der Arbeitgeber ein Disziplinarverfahren / Kündigungsverfahren einleiten.

Viele Arbeitnehmer haben in der Vergangenheit diese Situation genutzt, um Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend machen zu können, da das Ende des Arbeitsverhältnisses auf einer arbeitgeberseitigen Kündigung beruhte. Da das Nichterscheinen am Arbeitsplatz in vielen Unternehmen „zu erheblichen Störungen geführt hat, die sich sowohl negativ auf den Arbeitgeber als auch auf die anderen Arbeitnehmer ausgewirkt haben, die mit der unvorhergesehenen und unbegründeten Abwesenheit einer ihrer Kollegen/Kolleginnen zurechtkommen mussten[3], hat der frz. Gesetzgeber einen neuen Artikel L1237-1-1 in den frz. „Code du travail“ eingeführt, der wie folgt lautet:

Von einem Arbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz freiwillig aufgibt und nicht zur Arbeit erscheint, nachdem er per Einschreiben mit Rückschein oder gegen Empfangsbestätigung aufgefordert wurde, sein Nichterscheinen zu begründen und seine Arbeit innerhalb einer vom Arbeitgeber gesetzten Frist wieder aufzunehmen, wird vermutet, dass er mit Ablauf dieser Frist gekündigt hat.

Ein Arbeitnehmer, der die Kündigung seines Arbeitsvertrags auf Basis dieser Vermutung anfechtet, kann beim Arbeitsgericht Klage gegen die Kündigung erheben. Die Angelegenheit wird direkt vor das Entscheidungsgremium gebracht, das über die Art der Kündigung und die damit verbundenen Folgen entscheidet. Das Gericht entscheidet innerhalb eines Monats.

Die in Absatz 1 vorgesehene Frist darf eine Mindestfrist nicht unterschreiten, die durch eine Verordnung des frz. „Conseil d’Etat“ (d.h. Staatsrates) festgelegt wird. Diese Verordnung setzt die Anwendungsmodalitäten des vorliegenden Artikels fest.“

Der Vorteil dieser neuen Bestimmung wird vor allem darin liegen, dass der Arbeitgeber schnell Klarheit schaffen und die Stelle neu besetzen kann, ohne ein ganzes formlastiges Kündigungsverfahren nach frz. Recht durchführen zu müssen.

Der Arbeitnehmer kann diese Rücktrittsvermutung jedoch in einem Sonderverfahren vor dem Gericht anfechten und versuchen sie zu widerlegen, mit der Behauptung er sei gezwungen oder berechtigt gewesen, seinen Arbeitsplatz zu verlassen (z. B. aufgrund der Ausübung seines Streikrechts, seines Rückzugsrechts oder seines Gesundheitszustands[4]).

Die Frage stellt sich dann, ob die Widerlegung der Vermutung als eine ungerechtfertigte Kündigung bewertet würde, mit einem Schadensersatzanspruch zugunsten des Arbeitnehmers, oder ob diese ein Wiedereinstellungsrecht begründen würde.

Grundsätzlich kann ein Arbeitnehmer, dem gekündigt wurde nach frz. Recht zwar ein Wiedereinstellungsrecht geltend machen, das Gericht kann diesem Antrag jedoch nur stattgeben, wenn kein Grund vorliegt, der die Fortführung des Vertrags unmöglich macht, worunter die Behauptung des Arbeitgebers fällt, er könnte mit diesem Arbeitnehmer nicht mehr arbeiten. Diese Unmöglichkeit endet dann mit einem Schadenersatzanspruch des Arbeitnehmers.

Nicht nur diese Frage, sondern auch andere Themen hat der neue Gesetzesentwurf unbeantwortet gelassen, wie z. B. die Mindestdauer der Abwesenheit vor einer Mahnung.

Nun muss man nur noch die Veröffentlichung des Gesetzes im „Journal Officiel“ (d.h. Amtsblatt) abwarten, damit das Gesetz in Kraft treten kann. Außerdem sollte man auf die zukünftige Anwendungsverordnung des „Conseil d’Etat“ achten.

2) Reisezeit von Außendienstmitarbeitern: Achtung Überstunden!

Laut einem Urteil vom 23. November 2022[5] der „Cour de cassation“ werden fortan Reisezeiten von Außendienstmitarbeitern zwischen ihrem Wohnort und den Standorten des ersten und des letzten Kunden, die an einem Tag besucht werden, als „effektive Arbeitszeit“ gewertet und sind als solche zu vergüten. Bisher war die frz. „Cour de cassation“ der Ansicht, dass die Reisezeit des im Außendienst tätigen Arbeitnehmers keine Arbeitszeit ist, insbesondere gemäß Artikel L3121-4 des frz. „Code du travail“[6], und nur durch Ruhezeit oder finanzielle Entschädigung ausgeglichen[7] werden muss.

Obwohl diese neue Auslegung der frz. „Cour de cassation“ angesichts des Einflusses des europäischen Rechts, insbesondere der Richtlinie 2003/88/EG und ihrer Rechtsprechung erwartet wurde, wird diese sehr wahrscheinlich zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten über die Anerkennung von Reisezeiten als Arbeitszeit und die entsprechende Vergütung von Überstunden führen.

Arbeitgeber werden zukünftig die Reisezeiten ihrer Außendienstmitarbeiter noch sorgfältiger überwachen müssen, insbesondere wenn der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber während dieser Zeiten zur Verfügung steht und sich an seine Anweisungen halten muss, ohne frei seinen persönlichen Beschäftigungen nachgehen zu können[8].

Wenn die Fahrtzeit jedoch keine effektive Arbeitszeit i. S. d. Artikels L3121-4 des frz. „Code du travail“ darstellt, hat der Arbeitnehmer nur Anspruch auf den in Artikel L3121-4 des frz. „Code du travail“ vorgesehenen Ausgleich (d.h. durch Ruhezeit oder finanzielle Entschädigung), wenn er die Voraussetzungen dafür erfüllt.

Unser German Desk steht Ihnen bei Fragen zu diesen Themen sowie im Allgemeinen zu arbeits- oder gesellschaftsrechtlichen Themen, gerne zur Verfügung.

Nicola Kömpf, Avocat au Barreau de Paris und Rechtsanwältin, Berlin, und Mathilde Gicquel, Avocat au Barreau de Paris.

[1] Urteil des „Conseil constitutionnel“ vom 15. Dezember 2022 Nr. 2022-844 DC hier klicken https://www.conseil-constitutionnel.fr/sites/default/files/as/root/bank_mm/decisions/2022844dc/2022844dc.pdf

[2] Siehe: Urteile der „Chambre sociale de la Cour de cassation“ (d.h. Sozialkammer des frz. BGH) vom 24. März 1998, n°96-40.805 und vom 10. Juli 2022 n°00-45566.

[3] Bericht des französischen Senats vom 19. Oktober 2022, S. 30 (von F. PUISSAT und O. HENNO), hier klicken http://www.senat.fr/rap/l22-061/l22-0611.pdf

[4] Bericht des französischen Senats vom 19. Oktober 2022, S. 29 (von F. PUISSAT und O. HENNO), hier klicken http://www.senat.fr/rap/l22-061/l22-0611.pdf

[5] Urteil der „Chambre sociale de la Cour de cassation“ (d.h. Sozialkammer des frz. BGH) vom 23. November 2022, Nr. 20-21.924, hier klicken: https://www.courdecassation.fr/decision/637dcb6714982305d4c204de 

[6] Artikel L3121-4 des französischen „Code du travail“ (d.h. frz. Arbeitsgesetzbuch): „Die Reisezeit, um sich zum Ort der Erfüllung des Arbeitsvertrags zu begeben, ist keine effektive Arbeitszeit.

Übersteigt diese Zeit jedoch die normale Fahrtzeit zwischen dem Wohnort und dem üblichen Arbeitsort, so ist eine Gegenleistung entweder in Form von Ruhepausen oder in finanzieller Form zu gewähren. Der Zeitanteil dieser beruflichen Fahrzeit, der mit der Arbeitszeit zusammenfällt, führt zu keinem Lohnverlust.“

[7] Siehe: Urteile der „Chambre sociale de la Cour de cassation“ (d.h. Sozialkammer des frz. BGH) vom 14. November 2012, Nr. 11-18.571 und vom 30. Mai 2018, Nr. 16-20.634.

[8] Artikel L3121-1 des französischen „Code du travail“ (d.h. frz. Arbeitsgesetzbuch)